Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz ist längst kein Randthema mehr. Zahlreiche Studien belegen, dass psychosoziale Belastungen zu den zentralen Risikofaktoren für die Gesundheit von Beschäftigten gehören. Stress, Überforderung, emotionale Erschöpfung und psychosoziale Belastungen betreffen nicht nur Einzelpersonen, sondern sind Ausdruck kollektiver Arbeitsrealitäten. Sie resultieren aus einem Zusammenspiel organisationaler, sozialer und ökonomischer Faktoren.
Auch Luxemburg ist hiervon nicht ausgenommen. Die Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten Jahren rasant verändert: Digitalisierung, wachsender Fachkräftemangel, struktureller Leistungsdruck und eine zunehmende soziale Ungleichheit führen vielerorts zu struktureller Überlastung. Deutlich wurde dies erneut im Quality of Work Index 2024, einer repräsentativen Befragung luxemburgischer Beschäftigter zu Gesundheit und Wohlbefinden am Arbeitsplatz. Die Folge ist eine Zunahme psychischer Belastungen am Arbeitsplatz, die durch die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit weiter verschärft wird – denn Branche, Beruf und Bildung beeinflussen maßgeblich die gesundheitliche Chancengleichheit am Arbeitsplatz.
Und doch bleibt ein zentrales Instrument zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen weitgehend ungenutzt: die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Obwohl sie international empfohlen und national im Rahmen der Diskussionen um psychosoziale Risiken in der Arbeitswelt angedeutet ist, existiert in Luxemburg bis heute kein gesetzlicher Rahmen für ihre verbindliche Umsetzung. Dies ist Ausdruck eines größeren Problems: die wachsende Tendenz, Gesundheitsverantwortung dem Einzelnen zu überlassen, anstatt tragfähige, strukturelle Maßnahmen zu schaffen.
Was ist eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung?
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (GB-PB) ist Teil des allgemeinen Arbeitsschutzes. Sie verfolgt das Ziel, systematisch zu erfassen, wie Mitarbeitende durch psychische Belastungsfaktoren im Arbeitskontext beeinträchtigt werden, woher diese Belastungen kommen und welche organisatorischen Maßnahmen nötig sind, um die Gesundheit der Belegschaft zu erhalten. Psychische Belastung wird nach der Norm ISO 10075-1, einem internationalen Standard, der Richtlinien bezüglich psychischer Arbeitsbelastung beschreibt, folgendermaßen definiert:
„Psychische Belastung ist die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken.“
Diese Einflüsse sind nicht per se negativ. Entscheidend ist das Verhältnis von Anforderung und Ressourcen – sowie die Möglichkeit, Belastungen im Arbeitsprozess angemessen zu gestalten.
In europäischen und nationalen Richtlinien, wie beispielsweise denen der European Agency for Safety and Health at Work (EU-OSHA) oder der deutschen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), die sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse basieren, lassen sich typische Belastungsbereiche identifizieren, die innerhalb einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in den Blick genommen werden müssen:
- Arbeitsinhalt/-aufgabe, wie beispielsweise monotone Tätigkeiten, fehlender Sinnbezug, emotionale Anforderungen
- Arbeitsorganisation, d.h. Zeitdruck, Unterbrechungen, Schichtsysteme
- Soziale Beziehungen, d.h. Führungsstil, Konflikte, mangelnde Wertschätzung
- Arbeitsumgebung, mit dem Fokus auf Lärm, Enge, technische Probleme
- Neue Belastungen, wie ständige Erreichbarkeit, digitale Kontrolle, hybride Arbeit
Daran wird deutlich, dass die GB-PB auf Verhältnisprävention ausgerichtet ist: Sie zielt nicht auf eine Veränderung der Person, sondern darauf, die Arbeitsbedingungen zu analysieren – um aufzuzeigen, wo strukturelle Veränderungen ansetzen müssen
Luxemburgischer Kontext: Fehlende gesetzliche Rahmenbedingungen
Während andere EU-Länder wie etwa Deutschland die GB-PB im Arbeitsschutzgesetz fest verankert haben, existiert in Luxemburg bislang kein vergleichbarer verbindlicher Rahmen. Zwar werden psychosoziale Risiken in öffentlichen Diskussionen regelmäßig erwähnt, doch die gesetzliche Umsetzung bleibt vage. Der Code du Travail verpflichtet Arbeitgeber zwar grundsätzlich zur Gefahrenprävention, spezifiziert jedoch psychische Belastungen nicht ausdrücklich. In Unternehmen dominieren damit eher reaktive, individuelle und kurative Ansätze – etwa Stressbewältigungstrainings oder Beratungsangebote – anstatt struktureller Prävention.
Die Risiken einer Verlagerung der Gesundheitsverantwortung auf das Individuum
Dadurch verstärkt sich ein problematischer Trend: die Individualisierung struktureller Gesundheitsprobleme. Psychische Belastungen werden zur Verantwortung des Einzelnen erklärt, der sich „besser anpassen“ oder „resilienter werden“ soll. Dieser Ansatz hat mindestens drei Risiken:
- Verantwortungsverschiebung: Belastung wird zum persönlichen Defizit. Wer krank wird, hat „nicht genug auf sich geachtet“.
- Stigmatisierung: Betroffene werden als schwach wahrgenommen, während organisationale Ursachen unsichtbar bleiben.
- Strukturelle Blindheit: Die Arbeitsorganisation verändert sich nicht; der Anpassungsdruck liegt bei den Beschäftigten.
Kurz gesagt: es werden Symptome behandelt, nicht Ursachen. Die GB-PB kann dem entgegenwirken, indem sie eine kollektive Grundlage bietet, um strukturelle Verantwortung sichtbar zu machen.
Fokus auf die betriebliche Suchtprävention
Ein im betrieblichen Setting oft übergangener, tabuisierter oder bagatellisierter Bereich ist die betriebliche Suchtprävention. Dabei ist sie ein unverzichtbarer Bestandteil einer umfassenden Gefährdungsbeurteilung – aus mehreren Gründen.
- Suchtmittelkonsum – ob Alkohol, Medikamente oder digitale Medien – entsteht im betrieblichen Kontext oft als individuelle Reaktion auf strukturelle Überforderung. Chronischer Stress, Überstunden oder emotionale Erschöpfung können zu riskantem Konsumverhalten beitragen.
- Durch eine strukturierte Analyse psychischer Belastungen wird sichtbar, unter welchen Bedingungen suchtfördernde Verhaltensweisen begünstigt werden. Wissenschaftlich belegte Einflussfaktoren auf das Konsumverhalten von Beschäftigten können unter anderem Führung, Teamkonflikte, mangelnde Pausen, aber auch Überlastung durch erwartete ständige Erreichbarkeit sein – viele dieser Faktoren überschneiden sich mit den Belastungsbereichen, die in der GB-PB abgedeckt werden.
- Die besten betrieblichen Suchtpräventionsangebote wirken nicht, wenn sie isoliert von der betrieblichen Realität stattfinden. Eine wirksame betriebliche Suchtprävention braucht somit strukturelle Anbindung, welche über die Einbettung in die GB-PB erreicht werden kann. Damit basieren die Angebote auf einer Analyse realer Belastungen, werden in bestehende Arbeitsschutzsysteme integriert, binden Führungskräfte und Personaldelegationen mit ein und stützen sich auf klare betriebliche Richtlinien und Handlungspflichten.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Suchtprävention ohne Gefährdungsbeurteilung bleibt punktuell. Gefährdungsbeurteilung ohne Einbezug suchtrelevanter Aspekte bleibt unvollständig.
Politische und organisationale Perspektiven für Luxemburg
Luxemburg steht an einem strategischen Wendepunkt. Die Ressourcen und die Expertise für die Einführung der GB-PB sind vorhanden, es fehlt jedoch an verbindlichen Rahmenbedingungen. Notwendige Schritte sind:
- Gesetzgebung: Verpflichtende Einführung der GB-PB nach europäischem Vorbild und Anpassung des Code du Travail.
- Unterstützungsstrukturen: Staatlich koordinierte Begleitstrukturen und Fördermittel, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen.
- Integration: Verknüpfung der GB-PB mit bestehendem Risikomanagement, Arbeitsschutz, Suchtprävention und HR-Strategien.
- Sozialdialog: Institutionalisierte Einbindung von Sozialpartnern zur Legitimation und nachhaltigen Umsetzung.
Gesundheit ist nicht nur Privatsache – sie ist eine kollektive Verantwortung
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ist kein bürokratisches Hindernis – sondern ein zukunftsfähiges Instrument für gesunde, lernende und verantwortungsvolle Organisationen. Sie ist eine Brücke zwischen rechtlichem Arbeitsschutz und gelebter Gesundheitskultur. Sie holt psychische Belastung aus der Tabuzone und verlagert Verantwortung dorthin, wo sie hingehört: in die Organisation selbst.
Gerade in Luxemburg ist dieser Schritt dringlicher denn je. Die politischen Diskussionen zur kollektiven Verlängerung der Lebensarbeitszeit machen deutlich, dass Gesundheit am Arbeitsplatz nicht mehr als individuelle Aufgabe behandelt werden darf. Wer länger arbeiten soll, braucht Rahmenbedingungen, die Belastungen systematisch reduzieren und gesundes Arbeiten bis zur Rente ermöglichen. Gleichzeitig rücken die Debatten rund um den Krankenstand in den Fokus: Anstatt einseitig über Fehlzeiten zu diskutieren und Abwesenheiten zu beklagen, braucht es präventive Strukturen, die krankmachende Arbeitsbedingungen frühzeitig erkennen und verändern. Hinzu kommt der anhaltende Fachkräftemangel, der Unternehmen zwingt, die vorhandene Belegschaft langfristig gesund und leistungsfähig zu erhalten – andernfalls drohen Produktivitätsverluste und Wettbewerbsnachteile.
Luxemburg hat die Wahl: Will es bei individualisierten Präventionsappellen bleiben – oder will es gesundheitsförderliche Strukturen schaffen? Die Antwort auf diese Frage wird nicht nur über die Gesundheit der Beschäftigten entscheiden, sondern über die Wettbewerbsfähigkeit und soziale Stabilität des Landes in Zeiten des demografischen Wandels.